Koch.Campus Wien (2): Innereien, Hochküche und Wein – acht Stunden im legendären Steirereck

Der Koch.Campus in Wien lud zum Innereien-Think-Tank ins legendäre Steirereck - mit einigen der besten Köche, Winzer und Produzenten Österreichs

Willkommen im Steirereck

Das Steirereck ist legendär, ein Restaurant von internationalem Renommee und Wiens allerbeste Stube. Man lasse sich vom rustikal tönenden Namen nicht täuschen.

Architektur und Natur verschmelzen: das Steirereck im Wiener Stadtpark ©Koch.Campus – Helge Kirchberger

Im, auch architektonisch hochmodernen Haus, erfindet und entwickelt Chefkoch und Gastronom Heinz Reitbauer mit seinem engagierten Team die Küche Österreichs immer wieder neu, ohne das Erbe zu verleugnen. Mehr noch, in seiner grenzenlosen Modernität sind sie im Steirereck auch Bewahrer (und Entdecker!) der kulinarischen Schätze des Landes.

Blick in einen der Flügel des Steirerecks ©Koch.Campus – Helge Kirchberger

Koch.Campus 2020 – eine Reise ins Innere

Eine von sechs Kochstationen, auf der Terrasse ©Koch.Campus – Helge Kirchberger

Es hätte sich kein trefflicherer Platz für die „Reise ins Innere“, finden lassen, als das gute Haus im Wiener Stadtpark. Die Vereinigung Koch.Campus hatte Journalist*innen, Köche, Produzent*innen, Winzer*innen und Wissenschaftler*innen zum Thinktank geladen, hochprofessionell organisiert von der Agentur Wine&Partners.

Der Koch.Campus ist ein Zusammenschluss führender österreichischer Köche, Winzer, Gastronomen und landwirtschaftlichen Produzenten, ein NGO für kulinarische Kompetenz. Insgesamt 30 Köche und 20 Produzent*innen haben sich bislang der Weiterentwicklung der Küche Österreichs verschrieben – Ziele sind Austausch, Forschung und Kommunikation zur Küche von morgen, und „dem Beispiel der nordischen Küche folgend, das Beste aus unserem Klimakreis“, wie es Präsident und Qualitätsbrenner Hans Reisetbauer formulierte.

Das Dilemma mit der Innerei

Österreich genießt europaweit noch den guten Ruf als Hochburg der Innereien-Küche, während in vielen Nachbarländern das Wissen um die Zubereitung der inneren Werte eines Tieres in Vergessenheit geraten ist. Daran hat auch die Nose to tail – Idee des britischen Starkochs Fergus Henderson nichts geändert, ein weitestgehend fernes Ideal, auch weil: Der Gast will das nicht.

Kaum eine junge Köchin, kaum ein junger Koch weiß mehr, wie Herz und Magen, Leber, Kutteln, Zunge, Hirn und Nieren zubereitet werden; Restaurantbetreiber berichten zudem übereinstimmend von gewissen Ressentiments bei den Gästen.

Qualität sichtbar machen: der einzigartige Innereien-Schaumraum der Zotter-Fleischmanufaktur für den Koch.Campus im Steirereck ©Koch.Campus – Helge Kirchberger

Schieres Muskelfleisch ist gefragt, Fleisch, das nicht aussieht wie Fleisch, Fleisch, das möglichst nicht mehr an ein Tier erinnert und auch bitte nicht allzu sehr nach Tier schmecken darf. Invisibilisierung, Unsichtbarmachung, nennt der Frankfurter Ethnologe Prof. Dr. Marin Trenk den Selbstbetrug. Innereien verleugnen dagegen ihre Herkunft nie, ganz im Gegenteil, wer einmal Lammnieren in dunkler Sauce schmorte, der weiß: nie schmeckt Lamm intensiver. Und während ein Filetsteak auf dem Teller eine eher abstrakte Angelegenheit bleibt, erinnern Innereien den wackeren Esser oftmals schon in der Form sehr direkt an die eignen Organe und ihre Funktionen.

Verschwenderische Luxus-Tabuisierung

Aufwertung durch Qualität: Fleischermeister Christoph Zotter im Steirereck ©Koch.Campus – Helge Kirchberger

Unter Kulinarikern und Connaisseurs setzt sich dennoch langsam die Erkenntnis durch, dass ein Tier nicht nur aus Filetfleisch besteht und die „Verwertung“ bzw. Aufwertung aller essbaren Teile eines Tieres auch eine Frage der gastrosophischen Vernunft und des Respekts vor dem Leben ist. So sind bei einem Schwein insgesamt nur 500 g des gesamten Tieres nicht verwertbar, und ein Rind besteht aus über 30 essbaren Teilen. Nur ein Bruchteil davon, das schiere Muskelfleisch, gelangt in den Handel.

Wir leben zudem in Zeiten, in denen wir uns die verschwenderische Luxus-Tabuisierung der Innereien auch moralisch nicht länger leisten sollten – zumal uns die Innereienküche mit neuen, intensiven Geschmackserlebnissen belohnt.  An diesem Tag sollte das hier im Steirereck auf höchstem Niveau erfahrbar werden.

Foodtrend-Forscherin Hanni Rützler „Was uns berührt, was kommt, was geht.“

Immer interessant: Hanni Rützler ordnet in ihrer Arbeit kulinarische Ideen und Strömungen ein ©Koch.Campus – Helge Kirchberger

Zunächst aber gab es ein bisschen Hirn-Futter. Die kulinarische Trend-Forscherin Hanni Rützler erzählte im Heimspiel von den Einflüssen der Covid-19 Pandemie auf unser Essverhalten: was uns berührt, was kommt, was geht.  Die weltweite Pandemie zeigte uns allen sehr individuell, was uns wichtig ist, auf was wir verzichten können. Die Pandemie verlangsamte die Welt um anderswo zu beschleunigen: Digitalisierung und Kreativität schafften (notgedrungen) neue Strukturen.

Das gilt auch für die Kulinarik. Foodtrends entstanden in der Esskultur nach der Jahrtausendwende, frei von moralischer Tradition und finanzieller Unabhängigkeit waren sie vor allem: Ausdruck des Lebensstils. Die Strömungen die sich aus der Pandemie entwickeln, tragen ganz andere Werte mit sich: es geht, stärker denn je, um Nachhaltigkeit, Gesundheit, Qualität.

Lernen und Austauschen am runden Tisch, v.l.n.r: Winzer Andreas Gsellmann, Kollegin Sophia Schilick, Klaus Buttenhauser (Koch.Campus/Go! Projekts), (ich selbst) Stevan Paul, Journalist Ferdinand Dyck ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Der historische Hunger ist längst gestillt, es ist die Zeit der Flexitarier, Plant-Based-Ernährung , es schlägt die Stunde der Alternativen, auch für die Real Omnivores, die Gerne-Fleisch-Esser*innen, die jetzt z.B.  auch Schnecken und Innereien entdecken – sofern diese hochwertig produziert und aus ökologischer Haltung stammen.

Frühstück mit Inneren Werten

Heinz Reitbauer begrüßte im Anschluss die Gäste passend, mit einem kleinen Frühstück aus einem Schnittlauchbrot mit würzigem Lammleberaufstrich und einem Gersten-Haferflocken-Porridge mit Entenmagen, Gurke, Sellerie und gerösteten Hanfsamen.

Heinz Reitbauer, gehört seit 15 Jahren mit dem Steirereck zur kulinarischen Weltspitze ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Heinz Reitbauer, ein freundlicher Mann mit angenehmer Stimme und einer gelebten Begeisterung fürs Thema, führte kurz durch die alte Geschichte der Wiener Innereienküche, gab am Geschlinge von Kalb und Lamm eine anschauliche Innereien-Führung.

Reitbauer zeigte auf, dass Tiergesundheit oft weit weg vom Verbraucher ist, die Innereien lassen sich lesen. So weist beispielsweise eine helle Leber auf Eisenmangel und damit auf eine Masthaltungsform hin, Tiere aus Masthaltung haben oft Lungenerkrankungen. Innereien-Küche bedingt als das gesunde Tier aus ökologischer Haltung – und da ist die Nose-to-tail Philosophie so nah wie sinnvoll.

Innereien in der Hochküche – Erlebnis an zehn Stationen

Perfekte Gastgeberin: Birgit Reitbauer hat, mit großer Herzlichkeit, alles im Blick ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Das zu beweisen waren neben dem Team des Steirerecks auch die vielfach ausgezeichneten Gastköche Paul Ivić (Tian) und Max Stiegl (Gut Purbach) angetreten die, jeder auf seine Art, ihre Sicht auf das Thema servierten.

Im weitläufigen Haus mit Terrassenbalkonen und Wintergarten waren fünf Kochstationen aufgebaut, an denen in zwei Durchgängen Innereien-Samples verkostet werden konnten: von Innerei in verschiedenen Qualitätstufen bis zum fine dining Teller der Sterneküche.

Herzensangelegenheiten

©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Los gings mit einem Quiz der Herzen: sechs verschiedene Herzen, im Butterbad (mein neues Lieblingswort!) bei 70 Grad gar gezogen und auf dem Grill scharf angebraten, galt es geschmacklich den Tieren auf einer Karte zuzuordnen. Ich liebe Herz. Der am meisten bewegte Muskel eines Tieres, ist die einzige Innerei, der selbst Masthaltung nichts antun kann, schieres Muskelfleisch. Und ich koche gerne mit Herz, das mag geholfen haben, vier aus sechs, nur Truthahn und Gans hatte ich verwechselt.

©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Doch die Köche des Steirerecks können natürlich mehr als Herzerl grillen, zum Auftakt begeisterte mich ein vollmundiges Fischgulasch mit Forelle, Waller, Karpfen, und Reinanke (Felchen) Herzwürfelchen, dazu Mispeln und Staudensellerie.

©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Fabelhaft auch das dunkel geschmorte Taubenragout mit Herz und Magen und Grammerln aus frittiertem Herz.  An jeder Station bot sich zudem die Gelegenheit einen österreichischen Top-Winzer kennen zu lernen und alleine schon der 2019er Grüne Veltliner machte mich umgehend zum Fan des Bio-Weingutes von Bernhard Ott am Wagram.

©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Ein großes Herz

Kleinigkeiten, im Vergleich zur nächsten Probe: ein Rinderherz als Schinken. Absolut großartig und einzigartig, wie das Pastrami vom Rinderherz mit Salz, Koriander und Fenchelsaat – unvergleichlich.

©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Wie zart Herz auch ist, zeigte sich bei, kurz mit dem Lötkolben gebrannten, Herzstreifen, lediglich 8-12 Minuten in einer Zitrusmarinade gegart und dann mit erfrischender Wassermelone auf Aal-Créme angerichtet, die dem Gericht eine schmelzige Würze hinzufügte.

Max Stiegl servierte u.a. Pferdeherz ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Über ein großes Herz im Wortsinn, verfügte auch Max Stiegl vom Gut Purbach. In Deutschland wurde Stiegl einem breiteren Publikum durch eher schräge Auftritte in Sendungen von Tim Mälzer bekannt und schräg mag ers gerne. Der Ausnahmekoch hat Freude am Polarisieren, er ist, neben seiner Kochkünste (Max Stiegl ist tatsächlich der Künstlername des mit drei Hauben ausgezeichneten Kochs), ist er berühmt auch für seinen ganz eigenen Witz.

Max Stiegl servierte u.a. Pferdeherz ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Zur Begrüßung verschlingt er publikumswirksam erstmal einen langen Streifen rohes, dunkelrotes Pferdeherz, nur eben mit Salz gewürzt – um den Gästen dann ein etwas zugänglichere Variante anzurichten: eine Ceviche vom Pferdeherz, exzellent ausgearbeitet mit japanischer Yuzu-Zitrone, Szechuan-Pfeffer, Verjus, Orangenfilets, Zwiebel, Sibirische Gurke und Eberrauten(Cola-Kraut)-Sirup von Andert im Garten, ergänzt um Stücke von zartem Pulpo. Ein geniales Surf und Turf, Spruch darf nicht fehlen: „Gestern noch geritten, heute schon mit Fritten!“

Der Wein dazu eine charmante Aufforderung: Zu Tisch 2018er Cuvée aus Scheurebe und Weißburgunder, auf der Maische vergoren, vom biodynamischen Weingut Andreas Gsellmann im burgenländischen Goltz am Neusiedlersee. Ich muss mich zwingen diesen neuen Lieblingswein nicht in großen Schlucken zu genießen.

Schokolade vom Blutwurst-Weltmeister

Weltmeister Franz Dormayer ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Intermezzo mit Blutwurst am Stand von Fleischermeister Franz Dormayer, mehrfach preisgekrönter „Blunz’n“-Weltmeister! Ich machs kurz: sagenhaft. Der Biss, das Aroma, die Würze und Konsistenz seiner Weltmeisterblutwurst begeistert mich – ich habe ein Faible für Blutwurst und viel schon probiert, das ist klar Spitzenklasse.

Die Blutwurst mit Käse ist ein vergnüglicher Spaß, die mit Chili und Callebaut-Schokolade eine Herausforderung. Beiben wir bei Schokolade: Franz Dormayer ist für die Blutwurst, was Josef Zotter für die Schokolade: es gibt in den Beimengungen und Kombinationen keine Denkverbote. Und das soll so bleiben: in dritter Generation wird Markus Dormayer das Unternehmen weiter führen.

Weltmeister Franz Dormayer ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Das Blutwurstsortiment Dormayers ist riesig und bisweilen exotisch (Frutti di Mare, Kokos…), gerne hätte ich stundenlang alles verkostet – aber a bisserl was, stand noch auf dem Programm.

Once in a lifetime Götterspeise: Blutwurstbrot im Steirereck ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Augenblicklich verliebe ich mich auch in das Blutwurst-Brot, dass im Steirereck ein Klassiker ist und mit Dormayers Blutwurst gebacken ist – ein buttriger Traum an Würze!

Milz als Götterspeise – schwierig aber machbar…

Steirereck, Hauptküche ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

…das musste auch das Entwicklungs-Team um Heinz Reitbauer erfahren. Traditionell findet die Milz in Österreich gern einfach als Aufstrich (Milzschnitte in Schnittlauch-Rinderbrühe), oder als Bestandteil der Milzwurst Verwendung. Dem Blick in andere Länder, folgten Versuche wie die arabisch-marokkanisch inspirierte, gefüllte Kalbs-Milz mit Reis und Rosinen, Paprika und Majoran – der Gummi-artige Charakter war der Milz leider auch nach 3 Schmorstunden nicht auszutreiben. Püriert man allerdings das Innere der Milz, erhält man eine hocheiweißhaltige, stark bindende, cremige Masse von feinem Eigengeschmack.

©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Den Köchen des Steirerecks gelang daraus eine würzige Milz-Blut-Sauce, rahmig ohne die Zugabe von Rahm. Um diese Sauce herum entwickelten die Köche ein „Gemüsegericht“ aus gebackener Aubergine mit Zwiebel-Lamellen und  „Wiener Aromen“: Paprika-Öl, Zitrone, Anchovis und einem Marillen-Ragout, fein geschärft mit gelbem Suave-Chili aus der Habanero-Familie. So geht regional gedachte Hochküche ohne Grenzen.

Winzer Fred Loimer

Der Schaumwein dazu von ebenbürtiger Qualität: den Loimer 2013 Langenlois Grosse Reserve Blanc de Blancs Brut Nature, habe ich als Geschenk verstanden.

Ein Eintopf namens Ritschert

©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Milz gibt’s auch zurück auf Balkonien in Form eines „Eintopfes“ namens Ritschert mit Buchweizen, getrockneten Pflaumen, Liebstöckel und Mohn-Miso, angerichtet mit roh gehobelten und gebratenen Steinpilzen und Liebstöckel-Öl (wie unterschätzt Liebstöckel ist!), getoppt mit – Milzbackerbsen!

Der Wein, den Bernhard Ott uns dazu generös ausschenkt ist nochmal eine Steigerung zur ersten Runde, der 2016 Ried Stein, Kamptal, brennt direkt mit dem Ritschert durch! Klasse!

Lunge – die Vielseitige

Heinz Reitbauer bedient die Lungenmaschine – Vorne abstehende, die aufgeblasene Lunge selbst ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Die Köche des Steierecks inspirierte die Lunge zu einer japanischen Runde: hauchfein aufgeschnittene Lunge mit Salz und Limette als Snack vorweg. Die im Gemüsesud gekochten (und dann 3 Tage mit Kombu-Algen im kalten Kochfond gezogenen) Lungen wurde gedrittelt . Die weniger „löchrigen“ Endstücke wurden gegrillt im Umami-starken, erwärmten Fond gereicht, getoppt mit knsuprigen geriebenen „Grammerln“ aus den Mittelstücken.

Lunge mit Grammerln – beinah wie ein kleines Steak! ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Das durchaus saftige Faserfleisch der Lunge ist durchzogen von allem was es so zum Atmen braucht, dennoch gehört Lunge für mich zu den köstlichsten Stücken der Innereien-Kultur, gekocht und in Streifen geschnitten, in dunkler Sauce isst man sie in meiner schwäbischen Heimat gerne, säuerlich abgeschmeckt als „Saure Lunge“. Es gibt sie paniert mit Sauce Tatar, als Ragout in heller und dunkler Sauce.

©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Und weil auch Wurst immer eine gute Idee ist, gabs Zweierlei davon, mit gewolfter Lunge die hier Geschmack und Konsistenz erwirkt, im Verhältnis 70 % zu 30% Fett – in der „Regional-Version“ gereicht mit einer irrsinnig guten, frischen Vinaigrette aus Schönbrunner Zitrusfrüchten, Schalotten, Salbei und Minze – oder „Orientalisch“ mit Marillen-Pflaumen-Ketchup.

Charmant dazu der 2019 „Horizont“ Grüner Veltliner vom Weingut Herbert Zillinger, von emormer Würze und Frische, die schon Weinkritikerin Jancis Robins zum Schwärmen brachte! My definition of a mundvoll.

Innereien und Kopfkino

Einen hat er noch: Max Stiegel serviert Truthahn-Hoden ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Und dann ist die Innereien Sause auch schon beinahe um und das vorläufige Final der großen Innereien-Kocherei kommt von Max Stiegl, der sich wieder was ganz Besonderes ausgedacht hat. Und da sind wir an einem spannenden Punkt der Veranstaltung: das Grusel-Kopfkino der Innereien hat nämlich sehr individuelle Startzeiten.

Das Gericht selbst ist eher unauffällig, in einer so fabelhaften wie klassischen Beurre Blanc treffen adrig maromrierte Truthahnhoden auf blütenweiße Calamari-Stücke, die Konsistenzen ähneln einander. Der Biss der Hoden ist erstmal unangenehm widerständig, dann eine Cremigkeit, die an Bries erinnert.

Meins ist das nicht und das ist Geschmackssache. Gerne zitiere ich an dieser Stelle den geschätzten Kollegen Jürgen Schmücking, der zum ewigen Buhei um die Hoden in der Küche, auf Facebook klug kommentierte: „…ich halte es für unerlässlich, dass dem Innereien-Thema der Nimbus der Sensationskulinarik genommen wird. Fragen wie „wo ist deine Grenze?“, „was würdest du auf keinen Fall essen?“ halte ich für oberflächlich. Sie rücken das Ganze in Dschungelcampnähe. Und bringen das Thema keinen Schritt weiter.“

Gerade an einem Tag, an dem uns einige der talentiertesten Köche Österreichs die Möglichkeiten einer neuen Innnereienküche erfahrbar machten, sind das kluge Worte. Darauf einen kostbaren Schluck vom Loimer 2006 Ruländer AL (Auslese) – ein großer Wein, vor allem ein perfekt match zum Gericht, dass ich dann doch restlos weglöffel.

Innereien – rein pflanzlich?

Wirklich überraschend dann der „Innereien“-Gang von Haubenkoch Paul Ivić, der in seinen Tian Restaurant in Wien und München, sowie dem Tian Bistro in Wien ausschließlich vegetarisch kocht. Ivić selbst isst gerne Fleisch und eines seiner Signature-Dishes, dass wohl auch Real Omnivores begeistern dürfte, genossen wir am Vorabend in seinem Bistro Tian:

Vegetarisch am Vorabend, im Tian Bistro am Spittelberg

Küchenchef Jonathan Wittenbrink servierte uns dort Ochsentomaten mit geeistem Champagner und dann den legendären „Tatar“, der aus nicht weniger als über 20 Zutaten besteht und ein wirkliches Umami-Bömbchen von fleischiger Cremigkeit und Biss ist. Sommelier André Drechsel verwöhnte uns dazu mit dem 2018er Nittnaus Kalk & Schiefer von Anita und Hans Nittnaus aus dem Burgenland.

Ebenfalls am Vorabend durften wir auch zur Küchenparty ins Tian Restaurant, dass an diesem Abend Ruhetag hatte. Dort genoss ich u.a. einen der abgefahrensten Gemüsegerichte ever: Sonnenblume!

Gibt es nur 3 Wochen im Jahr: Sonnenblumen im Restaurant Tian

Nur drei Wochen im Jahr gibt es dieses Gericht überhaupt: „Schnitten“ von der Sonnenblumenknospe werden in Brühe und geräucherter Butter geschwenkt, die jungen weichen Kerne lassen sich dann wie bei einem Maiskolben abessen.

Daraus entwickelte das Team ein Gericht mit cremigen Steinpilzen, Sonnenblume und Sonnenblumenblättern, mit Fenchelpollen und Zitronengras fermentiertem Heidelbeerblut und dehydrierten und in Essig wieder belebten Brombereen. Der „Zweig“ ein Sauerteigchip mit 20% Steinpilzmehl gebacken. Drechslers treffliche Naturwein-Empfehlung zum so komplexen, wie runden Gericht: der Bonsai Blaufränkisch, Pinot-Style von Claus Preisinger, mega!

Die Pflanzen und die Bienen

Paul Ivić, im Hintergrund Winzer Kurt Feiler ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Der erste Gang der Tian-Crew zum Innereien-Thinktank: Möhren-Tatar in chemiefreiem Bienenwachs gekocht, mit verschiedenen Möhren in Honig-Vinaigrette getoppt, serviert im würzigen Fond mit Bienenwachs und pflanzlichem Katsuboshi von der Roten Rübe, stellt den Ort dar, an dem alles natürlich zusammenkommt: nur 200 Meter sind es für die Bienen von Stefan Baumgartner (Windisch)  zu den Karottenfeldern von Iris Wallner und Robert Brodnjak (Krautwerk), den NutriCulinary-LeserInnen schon vom Koch.Campus-Möhren-Experiment kennen.

Ivić denkt gerne weiter und ganzheitlich, sein Posten in der Küche des Steirereck bleibt zum Innereien-Think Tank pflanzlich. Oder? Das Gericht, dass er mit seinem Team präsentiert, nennt sich schlicht Karotte und Tagétes und zeigt nicht weniger als die Symbiose zwischen Mensch, Tier und Pflanze als Superorganismus, auf der begleitenden Karte schreibt Ivić: Natur ist alles zugleich. Herz. Darm. Milz. Niere. Leber und Lunge.

Den Wein dazu kredenzt uns Winzer Kurt Feiler vom Weingut Feiler-Artinger, der erfrischende kühle und trockene 2019er Rosé aus dem Burgenland kommt gut zurecht mit den floralen Noten der Tagetes, dem Honig.

 

Rübe 19/20

Zum zweiten Durchgang serviert das Tian Team ein Gericht Namens Rübe 19/20 – ein komplexes und köstliches Lehrstück über Nachhaltigkeit und Zeit. Drei Rüben sind die Hauptdarsteller Burpees Golden, Albino Verduras und Robuschka – sie finden zusammen in Teller und Glas und der Idee, die Geschmäcker der Ernte 2019 mit den Aromen der Ernte 2020 zusammen zu bringen.

alles andere als übersichtlich: Rübe 19/20 ©Koch.Campus-Helge Kirchberger

Mit Fermentiertem, Fonds aus Schalen und Abschnitten, Getrocknetem, Gebeiztem und frischer Bete. Als Saft und tiefe Sauce mit Amazake Koji und Albino Verdura von 2019, als Kombucha Scobby mit Essigmutter, die im eigenen Saft und mit Zucker gekocht eine eigen Konsistenz annimmt, die an Leber erinnert. Die Gelbe Bete von 2020 ist gewürzt mit dem gelbe Bete Miso von 2019. Die Robuska als Rolle, in Wildwürze und Butter gegart.

Es schwinden einem beim Mitschreiben schier die Sinne. Die Botschaft ist klar und das Ergebnis ein Genuss der zeigt, was pflanzliche Küche vermag. Wir stehen in der vegetarischen Küche ebenso am Anfang, wie in der Innereien-Küche.

Ebenso komplex, dabei süffig und lebendig im Glas: die 2017 Weisze Freyheit vom Weingut Heinrich. Ein Wein bei dem es sich vergnüglich über diesen Tag nachdenken lässt – und darüber hinaus. Wer gerne gutes Fleisch isst, der sollte sich ganz natürlich auch mit dem Reichtum der Innereienküche vertraut machen, die auf jedem (Koch-)Niveau bereichert und überraschen kann.

Das zu vermitteln, gelang dem Koch.Campus formidabel. Es ist den Gastgeber*innen, Winzer*innen, Fleischern und Köch*innen, den Teams hinter den Kulissen zu danken, die diesen aufklärerischen Tag, in dieser Qualität und Güte möglich machten! Danke!

 Die ganze Serie:

Koch.Campus Wien (1): Möhre und Terroir- das Experiment

Koch.Campus Wien (2): Innereien- 8 Stunden im Steirereck, Wien

Koch.Campus Wien: (3): Wanderung durch die Wiener Weinberge (demnächst hier.)

Offenlegung: ich danke dem Team der Agentur Wein&Partners für die Einladung zum Koch.Campus 2020, sowie die gastfreundliche Organisation und Unterstützung vor Ort.

Übernachtet habe ich im tatsächlich einzigartigen Boutique Hotel Altstadt Vienna, ein Haus im dem Kunst, Architektur und Design zuhause sind, jedes Zimmer eine eigene Welt. 

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