Wiederbesucht: Vegetarischer Spätsommer im 100/200 kitchen, Hamburg

Abschied vom langen, schwierigen Sommer 2020 - ein vegetarisches Menü im 100/200 kitchen

Passender war der Begriff wohl nie: für die Gastronomie bricht jetzt so langsam die „dunkle Jahreszeit“ an, nachdem der Sommer nochmal kurz in Verlängerung gegangen war, geht es jetzt definitiv rein ins Restaurant. Und da wird’s mitunter schon jetzt arg dunkel. In den vergangenen Wochen war ich wieder häufiger auswärts essen und sagen wir es mal so, ich hab mich unterschiedlich wohl gefühlt. Überraschend, wie lässig manche Betriebe den Corona-Schutz für Gäste und Mitarbeiter*innen handhaben und wie sorglos sich auch einzelne Gäste verhalten. Im Herbst und Winter werden jene Betriebe zu den Gewinnern gehören, die sich und ihre Gäste in die Pflicht, und die Sache generell ernst nehmen.

Foto: Rene Flindt für 100/200 kitchen

Das 100/200 kitchen gehört dabei zu jenen Restaurationen, in denen man immer schon luftig sitzen konnte, die Schutzmaßnahmen sind hier so unauffällig wie durchgängig umgesetzt – gefährdet nur kurz durch den Chronisten selbst, der auf dem Gang zum Händewaschen mal eben ohne Maske loslief, in Gedanken schon mit Sätzen zum Menü beschäftigt. Asche auf mein Haupt!

Foto: Rene Flindt für 100/200 kitchen

Tatsächlich ist das 100/200 ein geeigneter Ort um die ganze Virus-Nummer mal für ein paar Stunden zu vergessen. Der weite Raum mit der erleuchteten Küche in der Mitte, lässt Platz zum Atmen und wohlfüheln, am frühen Abend zaubert der Sonnenuntergang ein einzigartiges Licht, später geben sich Design und eine lässige Gemütlichkeit die Hand.

Fünf-Klang der Grundgeschmäcker und drei Amuse Geule

Auf die schöne Tradition der Sensorik-Einführung am Küchentresen mit Chef Thomas Imbusch und Team, verzichtet man aus oben genannten Gründen. Der als ganz eigener Auftakt servierte 5-Klang der Grundgeschmäcker gelingt aber auch am Tisch formidable, man ist direkt hellwach und angefüttert: auf einem Löffel eine Zwiebellammelle mit Rahm und Süßdolde (süß), ein Knäckebrot-Kräcker mit Sauerrahm und Zierquitte (Sauer), ein Tartelette mit Eicremen, Pilz und Kapern, eine kühle Mini-Rolle aus Rettich und Radicchio (bitter) und dann eine Umami-Essenz aus den letzte Tomaten des Sommers. Dazu wird roggenstarkes Brot von Patissier Mario Michaelis gereicht, begleitet von einer samtig-cremigen Butterzubereitung mit psychedelisch anmutender Ölung – Frische, Schärfe, grüne Würze, dazu das knusprige Brot, zum Sattessen gut.

Es folgen drei Amuse, später wird dazu im Menü-Handout zum Abend stehen: „In der Einfachheit steckt die Komplexität“. Einfach ist hier wenig und die Bete-Macarons mit Haselnuss sind auch handwerklich ein Kunstwerk des pointierten Geschmacks mit erdigen und nussigen Noten, einer subtilen Frische und überraschender Schärfe. Mir gehen Macarons ehrlich gesagt mittlerweile auf die Nerven, gerade als salziges Amuse macht das gefühlt jedes fine dining Restaurant und es ist immer zu süß, und die Konsistenz ist für mich immer wie quietschender Kreide auf einer Tafel. Ich machs kurz: dieser Macaron hatte dennoch Genussberechtigung.

Grüne Bohne mit Knoblauch und Quark werfen mich mit einem Haps in den Garten meiner norddeutschen Großmutter. Würzig, kühl, frisch. Der Löffel mit gerösteten Austernpilzen, Bohnencreme und Lorbeeröl ist ein Hinweis darauf, dass es im rein vegetarischen Spätsommer-Menü voraussichtlich heute an nichts fehlen wird, schon garnicht an Fleisch. Ach und Lorbeer! Mega unterschätzt, immer zu subtil eingesetzt, hier macht er die Musik!

Die letzten Tomaten des Sommers

Und es ist wieder Lorbeer, der elegant zum nächsten Teller führt. Die Verlinkung der einzelnen Gänge durch Produkte und Aromen sind für mich immer wieder ein Highlight im 100/200! Dreimal Tomate sommerreif, mit samtigem Lorbeereis und grünem Tomaten-Sorbet, die grüne Tomate mit grüner Fenchelsaat entpuppt sich als Götterspeise.

Wovon gemischte Salate zu Mittagspause träumen

„Der Salat“ wird als Novität annonciert, an einem „gemischten Salat“ hatte man sich hier zuvor wohl noch nicht versucht. Jede Gabel ein neuer Geschmackseindruck, zwischen und unter den Bitter- und Würzsalaten verbergen sich eingelegter Fenchel, salzige Kapern, geröstete Paprikastreifen, getrocknete Aubergine, eine Cremigkeit, frische Säure, warm-kalte Kontraste, das macht Spaß.

Trüffel mit Schmackes

Ein Berg gehobelter Sommertrüffel wird serviert, (wenn Trüffel, dann üppig!) unter dem sich ein weich geschmorter Shiitakepilz findet, kontrastiert von saurer Kirsche, Zitornenverben und Kombuch, ein Umami-Crowdpleaser der Eleganz! Dazu ein vin naturell, zum Wegsaufen schön! Muscat a petite grain, rot-orange, kühl und erfrischend, nach Zitronengras und Basilikum duftend, strohtrocken und von oxidativer Würze.

Knusper mit Prickel aus Bulgarien

Aus Bulgarien kommt der „Funky Mavrud“ ein perlender Pet Nat Blanc de Noir von Georgiev & Milkov – wieder hoher Trinkfluss! Dazu ein paar Chips, das wärs jetzt.

Kommt! Die „Knabberschale“ mit gerösteten Kartoffeln und frittierten Gemüsechips, knackigem Sellerie, Perlzwiebeln, Pilzen und Johannisbeeren macht Laune.

Apropos funky! Extra-Lob an dieser Stelle für die Playlist, einer gelungenen Mischung aus 70s Funk, 60s Soul und einer Prise Jazz, mit Neo-Swing und getupften Rockabilly-Anklängen. Stil halt.

Lauch & Fermentiertes

Und dann kommt so ein Gang, mit dem man bei mir ja immer offene Türen einrennt. „Lauch und Fermentiertes“ ist erstmal ganz viel Klassik, die alte Schule-Schaumsauce zum Weglöffeln gut, fruchtige Würze und luftige Cremigkeit verbindet knackig herben Fenchel mit viel Schnittlauch und Apfelstücken von konzentrierter Süße. Im Zentrum ein perfekter Cannelloni mit samtweicher Lauchstreifenfüllung. Dazu einen schwäbischen Spätburgunder zu servieren der passt, sowas kann Sommelière Sophie Lehmann, die uns zum folgenden Gang den perfect match des Jahres serviert:

Götterspeise mit Sake

Ein „grilled cheese sandwich“ mit Brioche-Toast, bestrichen mit einer Käsecreme vom Deichkäse der Käsemacher vom Hof Backensholz, mit Umami-Pilzcreme und lufthauchdünn gehobelten, rohen Pilzen.

Dazu: Sake! Der kühle Sake Marigold der japanischen Brauerei Amabuki ist mit Blütenhefen von der Ringelblume fermentiert – trocken, kühl, umami, mit dem Sandwich zusammen einfach bäm! Note to myself: Sake mit Käse-Thema zwinglichst vertiefen.

Zum Dessert: fotografieren vergessen!

Zum Dessert dann eine dankenswerterweise nur subtil süße Kreation aus Graupen in Milchkefirschaum, mit Ingwer und kleinen Würfelchen von getrockneten und wieder regeneriert Aprikosen. Erfrischend klar und wunderbar danach: der mit doppelt Butter gebackene, warm servierte Zimt-Brioche mit kühler Vanillecreme zum stippen. Das ist alles so köstlich ist, dass ich erst zur Friandise bemerke, dass ich das Fotografieren vergessen habe.

Patissier Mario Michaelis gehört jedenfalls zu den Großen seiner Zunft, mindestens in dieser Stadt, wie überhaupt festzuhalten ist, dass Thomas Imbusch, Sophie Lehmann und das Team des 100/200 ihre Waffen kennen und nicht zögern, sie einzusetzen.

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Offensichtlich aus der Vor-Corona-Zeit, das Foto von Rene Flindt für 100/200 kitchen

Offenlegung: Thomas Imbusch und ich, wir kennen uns schon länger und zwar gerade genau so gut, dass man mir mittlerweile bei einer offiziellen Restaurantkritik Voreingenommenheit unterstellen könnte. Betrachtet also den oben geschilderten Freundschaftsbesuch als genau das was er war und seid aber versichert, dass ich meinen Geschmackssinn trotzdem nicht an der Garderobe abgegeben habe.

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