Jeden Tag besucht der Koch Ruprecht Schmidt jeden einzelnen seiner Gäste und fragt nach Essenswünschen und Lieblingsgerichten. In der Küche erfüllt er dann jeden einzelnen Wunsch, denn jede dieser Mahlzeiten könnte am Ende eines Lebens stehen – Ruprecht Schmidt ist Koch in einem Hospiz.
Die Gäste des Hamburger Leuchtfeuer Hospiz sind schwer krank und erleben in diesem Haus ihre letzten Wochen, Tage und Stunden, würdevoll und selbstbestimmt, für sich oder in Gesellschaft der Hausgemeinschaft. Welchen hohen Stellenwert dabei der kulinarische Genuss einnimmt, weiß Ruprecht Schmidt. Essen bedeutet, gerade am Ende des Lebens, Erinnerung und Identität, Halt und Hoffnung:
“Essen heißt, ich lebe noch!”
Ruprecht Schmidt hat sein Handwerk gelernt, beim Sternekoch an der Elbchaussee gearbeitet und als Küchenchef in einem Hamburger Szene-Restaurant. Irgendwann wollte er raus aus der Einsamkeit der Restaurantküche, mit Menschen arbeiten. So kam der Mittvierziger ins Hospiz. Mit großer Liebe, Hingabe und Sorgfalt entwickelt er hier die Tagesmenüs und erfüllt „nebenbei“ die kulinarischen Sonderwünsche seiner Gäste. Ob ein hausgemachtes Rübenmus gefragt ist, Coq au vin oder der Cheesburger einer großen Burgerkette gewünscht, Ruprecht Schmidt macht auch Letzteres möglich, setzt sich aufs Fahrrad und besorgt das Gewünschte.
Oft erarbeitet Ruprecht Schmidt sich, gemeinsam mit seinen Gästen, Rezepturen die nur fragmentarisch, als Kindheitserinnerung vorhanden sind. Es wird solange in der Küche experimentiert, bis der erinnerte Geschmack endlich löffelweise vorliegt. Ruprecht Schmidt macht fast alles selbst, kocht Marmeladen und bäckt täglich Kuchen, erfüllt das Haus mit stimulierenden Düften, Sehnsüchten und Erinnerungen. Doch nur ein Teil seiner Arbeit findet in der Küche statt, lange Gespräche gehören ebenfalls zu den Aufgaben des Kochs – und der Abschied von seinen Gästen, immer wieder.
In einer klaren, schnörkellosen Sprache dokumentiert die Fernsehjournalistin und Autorin Dörte Schipper den Alltag des Kochs im Hospiz, dem Thema angemessenen unaufgeregt und ohne jede Betroffenheits-Dusselei. Die Einblicke überraschen: etwa dass ein Hospiz keinesfalls ein Ort stillschweigender Traurigkeit ist, sondern ein Ort der Begegnung, in dem durchaus das ein oder andere fröhliche Feste gefeiert, und dem Tod schon mal die lange Nase gezeigt wird.
Das Buch berührt dennoch ungemein. Dörte Schipper erzählt auch die Geschichte der Hausbewohner und ihrer Angehörigen, begleitet gemeinsam mit Ruprecht Schmidt einige von ihnen auf den letzten Wegen. Das ist ergreifend, das ist Tränen rührend und manches Mal kaum auszuhalten. Etwa wenn Ruprecht Schmidt nur eine Nacht zu spät mit der ersehnten letzten Mahlzeit am Sterbebett steht, oder einem Mann, der nicht mehr kauen und schlucken kann, den letzten Wunsch nach einem ordentlichem Steak trotzdem erfüllt.
Das Buch hallt lange nach und natürlich bedeutet es auch Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit. Das muss aber nicht schrecken. Eigentümlich gestärkt und sensibilisiert für die Chancen und Möglichkeiten des Lebens habe ich das Buch nach Lektüre zugeklappt, mit dem festen Vorsatz auch meinen Tagen ab sofort mehr Leben zu geben.
Dörte Schipper
DEN TAGEN MEHR LEBEN GEBEN
Über Ruprecht Schmidt, den Koch, und seine Gäste
Lübbe Verlag, 2010
253 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
€ (D) 19,99 /€ (A) 20,60 /SFr. 34,50*
ISBN 978-3-7857-2385-2