Matthias Haupt und ich, wir kennen uns schon viele Jahre, der Haus-Fotograf von “essen & trinken” arbeitet für die unterschiedlichsten Foodzeitschriften des Gruner & Jahr Verlages. Im vergangenen Jahr verbrachten wir, während der Produktion des aktuellen Tim Mälzer Buches Greenbox, gleich mehrere Wochen zusammen auf Mallorca. Dort erzählte Matthias uns von seinen kulinarischen Motorradreisen und ich ch freue mich, dass Matthias mir jetzt die Bilder und Notizen seiner 2012 Herbst-Tour durch Ligurien und das Piemont für den allerersten Gastbeitrag in der Geschichte von Nutriculinary überlassen hat. Danke Matthias!
Dem Himmel so nah
Eine abenteuerliche Enduro-Trüffeltour durch die Westalpen: Ein Paradies für Biker, Wanderer und Leute, die mit dem Montainbike unterwegs sind
Ligurien-Piemont September, 2012 (6x Fahrtage + Anreise Autozug: Hamburg-Alessandria)
Alessandria empfängt uns mit angenehmen 25 Grad. Gerade einmal knapp vierundzwanzig Stunden ist es her, seit Andreas und ich im Bahnhof Hamburg-Altona bei schmuddeligen 12 Grad in den Autozug eingestiegen sind. Unsere Enduro-Trüffeltour wird uns durch das Piemont, Ligurien und Frankreich führen. Natürlich wollen wir die Ligurische Grenzkammstraße (LGKS) fahren, und auch die kulinarische Seite soll dabei nicht zu kurz kommen. Zelt, Isomatte und Kocher haben wir mit gutem Gewissen zu Hause gelassen. Zum einen, um Gewicht zu sparen und somit auch sportlicher fahren zu können, zum anderen aber auch, um beim Einkehren Küche und Leute kennenzulernen. Bed & Breakfast wird überall angeboten, und im September sollte es auch kein Problem sein, wenn unangemeldete Gäste ein Bett benötigen. Dieser Plan sollte sich als goldrichtig erweisen.
Zuerst fahren wir über Alba ins Maira-Tal, eines der dünnbesiedelsten Regionen Europas. In Alba, der berühmten Trüffelstadt, machen wir Halt. Die Trüffelnudeln im „Bistrot Duomo“ (N44.701020 E8.036492), die wir serviert bekommen, duften wunderbar nussig. Am liebsten würden wir das Gleiche noch mal bestellen – aber wir müssen weiter.
Als wir in Dronero, unseren Einstiegspunkt zur Varaita-Maira-Kammstraße ankommen, entdeckt Andreas eine kleine Pension, die sich mit einem unauffälligen Schild ankündigt. Der Chef empfängt uns freundlich und zeigt uns das Zimmer. Ein Tanzsaal mit acht Betten. Natürlich vorgesehen für Wandergruppen. Alles tipptopp. Wir bezahlen unglaubliche 20 Euro pro Nase für die Übernachtung und das Frühstück. Na ja, beim Frühstück muss man gewisse Abstriche machen – ein echtes Männerfrühstück eben: Kaffee super, Rest egal. Der Chef der Pension gibt uns noch Wetter-Infos für die Varaita-Maira-Kammstraße und dann schwingen wir uns bei Bilderbuchwetter euphorisch auf die Bikes.
Grober Schotter, Kehren und eine ordentliche Steigung verlangen Aufmerksamkeit. Kurze Zeit später stoppen wir bei einer Pferdekoppel und einem Bauernhof. Die Pferde grasen auf einer Weide, die ein Gefälle hat, wo wir nur Steinböcke vermuten würden. Unglaublich. Plötzlich steht ein Mann vor uns und zeigt uns wunderschöne Pilze. Er begrüßt uns herzlich und möchte uns die Pilze schenken. Wir können das nicht abschlagen, und seine Frau packt uns die Pilze in eine Papiertüte. Wir sind überwältigt von so viel Gastfreundschaft, und das schon auf den ersten hundert Metern. Kurze Zeit später vor uns große Steinplatten, die schmale Straße wird steiler. Wir müssen im Stehen unser Gewicht stärker aufs Vorderrad verlagern. Es holpert und scheppert. Rechts der bewaldete Abgrund, links Felsen und Gebüsch. Dröhnend wie eine Pistolenkugel kommt plötzlich eine Gruppe von KTM-Fahrern um die Ecke geschossen. Andreas vor mir geht voll in die Eisen und zieht knapp an den Abgrund auf die rechte Seite. Herzklopfen. Hier wird uns bewusst, warum viele die Sperrung der Militärstraßen für Motorradfahrer fordern, denn das hier hat nichts mit Enduro-Wandern zu tun. Statt zu grüßen, würden wir am liebsten den Stinkefinger zeigen, aber wir lassen die Hände lieber am Lenker.
Wanderer und Mountainbiker begegnen uns. Oft wird kurz geplaudert, dann geht es wieder weiter. Mein Höhenmesser zeigt stolze 2100 Meter an. Es wird karger. Wir haben die hochalpine Region erreicht. Keine Hütte, keine Besiedlung weit und breit zu sehen. Ich fühle mich wohl. Wildnis. Glücksgefühle steigen auf. So etwas kenne ich auch von Island. Überhaupt erinnert mich die Landschaft auf der Varaita-Stura oft an Island. Grünlich schimmernde Felsformationen, spärliche Vegetation in Form von Flechten. Wie Teppiche breiten sich die Flechten aus. Es wird kälter. Wir sind froh, auch noch Fleece-Jacken unter die Motorradjacken ziehen zu können. Und wir essen Müsliriegel, um unseren Zuckerhaushalt auf Trab zu halten.
Vor uns Schafe. Wir stoppen. Andreas schenkt dem Schäfer die Pilze. Der ist so begeistert, dass er uns sofort Grappa, die Schnaps-Spezialität im Piemont, anbietet. Da wir nur die üblichen Brocken Italienisch können, machen wir ihm – teilweise mit Zeichensprache – klar, dass wir nicht vorhaben, in den Abgrund zu segeln. Wir lachen alle, und ich darf Portraitfotos machen. Genial. Die Herzlichkeit ist überwältigend, die Sprachbarriere kein Hindernis. Leider müssen wir wieder weiter… Als wir auf die Enduros steigen, brutzeln schon die Pilze in der Pfanne.
Das letzte Stück der Varaita-Stura ist einfach nur atemberaubend, wie eingemeißelt in den Berg führt die Militärstraße zum höchsten Punkt. Immer den Abgrund vor Augen. Teilweise sind Erdrutsche zu sehen, die nur grob beseitigt wurden, damit ein Durchkommen überhaupt möglich ist. Das Panorama ist atemberaubend. Auch das erinnert an Island. Die Berglandschaft schimmert in zarten Grün- und erdigen Sandtönen. Vereinzelt Tannen. Wir fühlen uns wie in einer Modelleisenbahnlandschaft. Einfach zu schön, um wahr zu sein.
Am höchsten Punkt angekommen, passieren wir ein Baustellenschild, und der Asphalt hat uns wieder. Hier oben treffen wir andere Enduro-Fahrer, die von Elva aus aus die Asphaltroute hier hoch gewählt haben. Zwei GS-Fahrer fragen erstaunt, wo wir denn herkommen. Wir werden mit Respekt behandelt, da wir zu den verwegenen Militärstraßen-Fahrern gehören. Ein bisschen Bedauern schwingt mit – das Abenteuer hätten sie auch gerne erlebt. Aber das Gewicht einer BMW 1200 GS ist leider nichts für solche Wege – außer natürlich für Könner. Mit einer leichten Enduro bis maximal 200 kg ist man einfach entspannter unterwegs.
Jetzt sind wir schon ganz gespannt auf unserem nächsten Einstiegspunkt an der Maira-Stura Kammstraße. Bevor wir den Einstiegspunkt erreichen, erklimmen wir mit den Enduros Asphalt-Serpentinen. Hier zahlt sich aus, dass wir mit dem TKC-80 einen idealen Schotter-, aber auch Asphaltreifen haben. Ohne Probleme können wir Schräglagen fahren, die nicht jeder Stollenreifen zulässt. Murmeltiere beäugen uns neugierig. Wie Zinnsoldaten stehen sie in der Nähe ihres Baus. Hoch oben zieht ein Steinadler seine Kreise.
Jetzt geht’s auf Schotter weiter. Eine sehr angenehme Strecke erwartet uns, nur vereinzelt sehr grober Schotter. Manche Landschafts-Szenarien sind so großartig, dass man sie nicht mal mit der Kamera richtig einfangen kann. Wir begegnen nur wenigen Enduro-Fahrern. Vielleicht auch wegen unserer Reisezeit im September. Im August ist sicher mehr los. Mit gut 20 Grad ist das Wetter angenehm fürs Enduro-Fahren. Jetzt wird’s wieder enger, und die Schotterroute schlängelt sich am Felsen entlang. Ich begegne einem Italiener auf einer Trial-Maschine. Er trägt leichte Segelschuhe und eine dünne Hose, grüßt mich locker und braust davon. In meiner Enduro-Bekleidung komme ich mir vor wie Robocob.
Die Maira-Stura-Route ist landschaftlich ein Leckerbissen – großartige Bergpanoramen, grandiose Weitblicke. Sowohl die Vaira- als auch die Maira-Route sind optimal zur Vorbereitung auf das Highlight LGKS, die fahrtechnisch höhere Ansprüche stellt.
In Marmora finden wir in einem Hüttendorf für zwei Tage eine Unterkunft, die fast so komfortabel wie in einem Hotel ist. Im „Ceglio“(N44.457977 E7.093937) sollte man unbedingt Halbpension buchen – das Essen ist hier eine Sensation! Aufgetischt wird traditionelle Kost, ausschließlich aus frischen Produkten der Region. Wer hier nicht satt wird, muss einen Bandwurm haben. In der Gaststube und auf dem Gelände der Anlage zeigen Fotos und Gerätschaften Einblicke in das Leben der Menschen in früheren Zeiten. Ich fühle mich wie auf einer Zeitreise. Grandios. Muss man gesehen haben. Wir wollen weiter Richtung Frankreich. Wieder geht es durch wilde Gebirgslandschaften mit endlosen Serpentinen.
Im „Gasthof Regina delle Alpi“(N44.399497 E8.036492) essen wir die besten Gnocchi und Ravioli. Die Gnocchi in einer feinen Käsesauce, die Spinat-Ravioli klassisch mit Salbeibutter. Und die Preise sind der Hammer: 7 Euro für die Gnocchi, der Cappu dazu noch 1,20 Euro. Die Frau des Chefs stammt aus Ghana, dementsprechend ist die Dekoration im Gastraum. Alle Wände türkis.
Allmählich nähern wir uns La Brigue bei Tende. Von dort wollen wir zur nördlichen Route der Ligurischen Grenzkammstraße aufbrechen. Nachdem wir die französische Grenze passiert haben, fürchten wir erst mal um unser Leben. Wie Raketen flitzen die Franzosen, nur um Haaresbreite entfernt, an uns vorbei. Wir scheinen einfach nicht existent zu sein im Straßenverkehr. Extreme Konzentration ist gefordert. Verdammt, wir sehnen uns nach der Ruhe auf dem Schotter! Als wir durch den Tende-Tunnel fahren, werden wir wild überholt – die durchgezogene Linie scheint nur optische Funktion zu haben. Endlich erreichen wir La Brigue. Völlig fertig vom Verkehr, nehmen wir Quartier im Hotel „La Mirage“. Bei 32 Euro pro Person fällt uns die Entscheidung nicht schwer. Unglaublich: Dafür gibt’s ein riesiges stilvolles Zimmer mit großem Badezimmer!Beim Essen legt man Wert auf Frische – die Forellen werden gleich neben dem Fischebassin am Hoteleingang totgeschlagen. Nur der Kaffee ist unerträglich. Da ist sogar der Kaffee der Bundesbahn besser – und das will was heißen!
Am nächsten Morgen lacht uns die Sonne entgegen. Um zum Einstiegspunkt der LGKS zu kommen, fahren wir an der Sixtinischen Kapelle „Notre Dames des Fontaines“ vorbei. Wer ein wenig Zeit mitbringt, kann sich auch die sehenswerten Fresken in der abgelegenen Kapelle ansehen. Der Asphalt endet, unter den Stollen ist wieder Schotter. Noch ist alles ganz locker. Gleicht eher einem staubigen Feldweg, der durch waldiges Gebiet führt. Allmählich wird die Landschaft karger. Ein Schild warnt vor Steinschlag. Jetzt wird es spannend. Wir blicken auf eine Serpentinenstrecke, die wie die Schottervariante des Stilfser Joch aussieht. Darmschlingenartig ziehen sich die Schotterserpentinen. Darüber wabert eine riesige Wolke nebelartige feuchte Luft. Die Sicht wird schlechter. Dann plötzlich grüne Steilhänge, die Sonne bricht durch den Nebel. Ein wunderbares Schauspiel. Ich fotografiere wie ein Besessener. Wir vergessen die Zeit. Lautes Motorendröhnen. Vier Österreicher mit schweren Reise-Enduros halten neben uns. Wir plaudern ausgelassen. Richtige „alte Hasen“. Algerien, Libyen – überall schon gewesen. „Des is a Draum, die Ligursche!“, sagt mir Schorsch von der verwegenen Truppe. Kurze Zeit später verschwindet die Truppe in einer respektablen Staubwolke. Beeindruckend, wie die Jungs mit dem schweren Gepäck und den großen Enduros auf der Schotterstraße unterwegs sind. „Alte Hasen“ eben.
Als wir zum letzten Teil der nördlichen LGKS gelangen, stockt uns beiden der Atem. Die Nebelwolke umschlingt uns wie eine Krake. Fünf Meter Sicht auf einer groben Schotterpiste, die am Abhang entlangführt, ist auf Dauer nicht gerade etwas, was Spaß macht. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit wird es auch noch kalt. Wir frieren. Das Visier muss offenbleiben, sonst beschlägt alles und die Sicht wäre gleich null. Im Schrittempo tasten wir uns Meter für Meter Richtung Tende vor. Unendlich lange dauert es, bis wir wieder Asphalt unter den Stollen haben. Jetzt ist es stockdunkel. Die Asphalt-Serpentinen, die hinunter zum Tende-Tunnel führen, sind nach alldem, für uns eher ein Kinderspiel. Wir haben erfahren, dass man auf dieser Strecke immer mit Wetterumschwüngen rechnen muss und nicht bis zum Einbruch der Dämmerung fahren sollte. Auf solchen Höhen ist das Wetter in den Bergen unberechenbar und kann zum Verhängnis führen.
Im Restaurant in Tende treffen wir die „alten Hasen“ wieder, die sind bereits mit dem Essen fertig und schon beim Wein. Die Freude ist groß – ein bisschen Sorgen hatten sich die Jungs um uns schon gemacht. Auf jeden Fall beschließen wir heute Abend, uns eines Tages alle wieder an der LGKS zu treffen – einem der letzten großen Schotter-Abenteuer in Europa.
Zwei Tipps noch zum Schluss: Wer noch Zeit hat, sollte das Dorf „Dolceacqua“(N43.851390 E7.623522) in Ligurien besuchen. Die Gassen sind urig und die Teufelsbrücke hatte schon Claude Monet 1884 inspiriert. Absolut sehenswert. Gutes Essen wird man auch dort finden…
Und: Hinter einigen kulinarischen Adressen stehen die Koordinaten für Längen- und Breitengrad. Einfach kopieren und in Google Maps einsetzen. Schon hat man den genauen Standort.