Tim Raue, my way – das Buch zum Chef‘s Table-Auftritt

Klassische Musik, Streichorchester, energische Drums, dazu Rühren, Kochen, Schwenken, Feuer – alles in Zeitlupe, ganz nah ran ans Gericht und rein in den Topf – das sind die Grundzutaten der Chef’s Tabel Serie auf Netflix, ein beispielloser Erfolg, nie zuvor wurde Kulinarik so konsequent pompös-überspitzt, schwelgerisch visualisiert und erzählt. Die besten Küchenchefs der Welt öffnen in einzelnen Episoden ihre Küchen, geben Einblick in ihre Philosophien, Lebenswege werden aufgezeigt. Heute (17.02.) startet uns streamt Netflix die dritte Staffel der Emmy-nominierten Doku-Reihe und erstmals ist ein Koch aus Deutschland dabei: Tim Raue.

Vergangene Woche hatte ich das Vergnügen, anlässlich der Premiere seines neuen Buches in Hamburg, vier Gänge aus Raues asiatisch geprägten Gewürz und Aromen-Küche zu genießen, eine Beschreibung des Abends findet sich hier im Blog.

Tim Raue my way heißt der, pünktlich zum Chef‘s-Table-Staffelstart auch in englischer Sprache im Callwey Verlag erschienene Band. Klingt gleich ein bißchen nach Frank Sinatra und startet auch retrospektiv, Journalist und Autor Stefan Adrian hat Tim Raues Lebensweg aufgeschrieben, ein lesenswertes Stück über Raues Werdegang vom Straßengang-Mitglied zum Zwei-Sterne-Koch, sein Restaurant ausgezeichnet mit einem Listenplatz der World´s 50 Best Restaurants. Die Straßengang-Nummer wurde eigentlich breits erschöpfend erzählt, Raue selbst sagte am Premierenabend dazu: „Interessiert mich nicht mehr.“ – doch die Geschichte ist zu schön um nicht nochmal erzählt zu werden, ein bisschen Gruselstimmung für Bildunsgbürger, die dann beim geretteten Sohn lecker Garnelen essen gehen können. Stefan Adrian gelingt es aber, wirklich neu und fesselnd von den Anfängen zu berichten (finding yourself, heißt das Kapitel im Buch), lesenswert und ohne Pathos bringt er uns Tim Raue als Persönlichkeit näher, zeigt das, was den Menschen und Koch Raue (schon immer) auszeichnet(e): Leistungswille, Disziplin, Konzentration. Insbesondere beim zweiten und noch wesentlich interessanteren Kapitel creating yourself erfährt man viel über die kulinarische Werdung Raues, erhellend ist das.

Nach über 80 biographischen Seiten mit vielen bislang privaten Fotos des jungen Raue, beginnt der beinahe 200 Seiten starke Rezeptteil – und wer diesen als aktuelle Werkschau und Status Quo Tim Raues Küche und Philosophie begreift und genießt, wird viel Freude haben. Schon beim ersten Blättern fällt auf, dass sich Raues Küche seit seinem Buch „My Favorite Things“ (2013 im Blog hier besprochen) weiter entwickelt hat, hin zur nochmaligen Reduktion, der Konzentration auf 2-3 Hauptkomponenten auf dem Teller. Einfacher ist Raues Küche dadurch nicht geworden, mehr den je steckt seine überbordernde Kreativität und Raffinesse im Detail, in den Würzungen und Zubereitungen. Und hier steckt auch der Nutzen für den ambitionierten Hobbykoch, denn: mit dem Nachkochen dürfte es in mancher Hinsicht schwierig werden. Neben Thermodingens, Dörr-Apparaten und Sous-Vide-Gerätschaften sind es vor allem die überwiegend hochkomplexe Kreationen die Zeit, Geschick, viele Handgriffe und manches mal auch sehr spezielle Zutaten benötigen. Hinzu kommt, dass es sich bei den Rezepten in der Regel um Rezepte handelt, die in Menge für den Restaurantbetrieb notiert wurden.

Ich scheiterte bereits an einem der vermeintlich einfachsten Rezepte im Buch: dem Fried Rice RTR. 1 kg roher Basamti-Reis ist gefordert und wenn ich das dann runterrechne (und ich kann gar nicht rechnen, Dyskalkulie galore!), komme ich überhaupt nicht mehr klar mit den lediglich vier Esslöffeln Chili Bean Sauce von Lee Kum Kee, die ja dann nur noch als Tröpfchen aus jener Saucenflasche tröpfeln – die ich gar nicht besitze. Und ich soll rasch noch Mushi-Sauce zur Hand haben/kochen – die findet sich im Kapitel Grundrezepte. Für eine schnelle Feierabendküche war das dann nichts – aber! Es gab leckeren Bratreis und ich lernte ganz nebenbei eine Technik, den Bastamtireis zu waschen, gegart in Eiswasser (!) abzuschrecken und zu trocknen (!) – bevor er gebraten wird. Nie zuvor ist mir Basmati-Reis als Bratreis, derart körnig und „bissig“ gelungen! Klasse!

Und genau darum lohnt die Beschäftigung mit diesem Buch, mit Raues Techniken, Würzungen, Zubereitungen – es sind einfach auch einzelne Aspekte aus den komplexen Gerichten, die höchst inspirierend und erhellend sein können. Spannend in diesem Zusammenhang: die drei Doppelseiten Seiten mit vielen, kurzen und interessanten Grundrezepten! Fotografiert wurden die Rezepte vom Berliner Fotografen Jörg Lehmann, unaufgeregt, ruhig und klar, aus zwei wechselnden Perspektiven. Das Teller- und Tableware-Styling ist ansprechend-elegant, ganz toll.

Wer die asiatische Hochküche liebt, neugierig und offen ist, ein bißchen Kocherfahrung und Intuition mitbringt – der wird viel und lange Freude an diesem großen Buch haben!

Blick ins Buch:

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