Lost in Leipzig – Buchmesse 2010 Nachlese

Freitag

Der dicke Bass lässt die Sitzbezüge des Wagens vibrieren, es kitzelt im Rücken, Gänsehaut und alles neu bei Peter Fox, ich gebe zart Gas, die Beschleunigung drückt mich ins Polster, mit 200 Stundenkilometern sause ich über die morgenleere Autobahn Richtung Leipzig. Ich bin auf dem Weg zur Buchmesse. In einem roten 1er BMW. Ich kann Ihnen das erklären.

Gleich nach der Buchmesse soll es nämlich weiter nach Berlin gehen und da komme ich, dank roter Plakette, einfach nicht mehr rein, mit meiner alten Rostlaube. Also habe ich mir für die Tour ein Auto gemietet und weil beim Autoverleih der BMW nur zehn Euro mehr kostete als ein Smart wählte ich den BMW. In meinem Kopf ist ein BMW schwarz. Allerhöchstens dunkelblau, eventuell silberfarben. Rot leuchtete mir mein neues Gefährt bei der Abholung entgegen und auch ich errötete sofort stark. Ein 1er BMW ist ein schönes Auto, in der Farbe Rote hat der Wagen dann allerdings urplötzlich eine, diplomatisch ausgedrückt, eher halbseidene Außenwirkung. Irgendwie auch ganz schön Deutschland, alles nur geliehen.

Die Leipziger Buchmesse sieht der Frankfurter Buchmesse zunächst zum Verwechseln ähnlich, dicht drängen sich die Verlage in kleinen und größeren Schuhkartons entlang der Besucherpfade und irgendwo läuft immer grade Günter Grass durch eine der schlecht gelüfteten Hallen. Der Unterschied, das was Leipzig ausmacht, erklären mir die alten Buchmessehasen nimmermüde, sei das „Gesellige“, die Lesungen, die Partys. In Frankfurt werden die Geschäfte gemacht, in Leipzig trifft man sich.

Ich treffe auch gleich eine Menge Leute am Stand des mairisch Verlages und auf allen Wegen, viele erkenne ich sogar auf Anhieb (tschuldigung!). Nicht gleich erkannt habe ich auch Leander Wattig der sich mit dem Projekt Ich mach was mit Büchern für eine stärkere Vernetzung des Buchmarktes stark macht. Er hält am Stand des Börsenverein des Deutschen Buchhandels einen bemerkenswerten Vortrag zum Thema Netzkultur und Vernetzung von Autoren, Buchhandel und Verlage, zeigt auf wie online durch crossmediale Maßnahmen neue PR und Vertriebswege für alle Buchschaffenden entstehen können. Die Zwischenfragen und Kommentare machten es deutlich: da ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten, da gibt es noch viele Ängste und Befürchtungen seitens aller Beteiligten. Nur ein Beispiel: eine Verlegerin erklärt verärgert-verwundert, dass ihre Produktwerbung in diversen Internet-Foren sehr schlecht ankam – nein, sie habe sich sonst nicht weiter mit Beiträgen engagiert, dazu habe sie ja gar keine Zeit!

Am Nachmittag lesen mein Kollege Finn-Ole Heinrich und ich auf der Bühne der unabhängigen Verlage. Die Geräuschkulisse ist ohnehin imposant, schwer und lautstark atmet die Halle, eine stetig rasselnde Geräuschkulisse. Als ich dran bin wähne ich mich kurz bei der „Verstecken Kamera“: ein Brassband zieht spielend ihre Runden in der Halle, mächtiges Blaswerk zwischen New Orleans Brass und der „Knoff Hoff“-Show Dixie-Hölle. Aufmunternd nickt mir das Publikum zu, ich brülle zwei Texte ins Rund.

45 Minuten sitze ich in meiner roten Rutsche im Rückstau, checke ins „Hotel“ ein, der deprimierender Plattenbau der Aparion Apartments dünstet Geschichte und Linoleumdämpfe aus und macht sofort schlechte Laune. In den kalten Apartements fällt das karge Licht der Straßenlaternen durch blaue Plastikjalousien, jeden Moment müssten eigentlich Simone Thomalla und Martin Wuttke auftauchen und fragen, ob ich tatsächlich nichts mitbekommen habe vom Doppelmord im Nebenzimmer.

Gegessen wird an diesem Abend mit Freunden und Verlegern im Freien: im Barfußgässchen, einer Art Fressmeile sind alle Innenplätze der Restaurants belegt, es gibt noch kerzenilluminierte Outdoor-Tische in der acht Grad kühlen Nacht und wir lernen: auch 100 Heizstrahler machen noch keinen Sommer. Kollege Heinrich ist ein gefragter Mann, wir besuchen ihn bei seiner dritten Lesung an diesem Tag, eine Aufzeichnung des SWR. Die Zeit rast, irgendwie sitzen wir plötzlich gegen 22:00 Uhr im Backstage der Lesung der unabhängigen Verlage , schon ein bisschen angeschickert von Bier und Wein und der Messetag zieht im Schummerlicht an den Augendeckeln. Ob das so eine gute Idee war, eine Lesung um 23:00 Uhr?

Eine Superidee! Beide Säle des Lindenfels Westflügels sind immer noch komplett ausverkauft, großartiger Spielort, meterhohe Wände im Gründerzeitbau, der einst eine Ofenrohrfabrik, später ein Kino und heute Bühnen beherbergt. Ein großes, interessiertes Publikum erwartet Katharina Bendixen, Finn-Ole Heinrich und mich zu später Stunde, Moderator Florian Anrather hat unsere Bücher tatsächlich gelesen und selbst der Ausfall der Anlage gerät zur Nebensache. Mir doch egal, ich habe heute schon gegen eine Brass Band angelesen und brülle zum zweiten Mal an diesem Tag einen Text ins Rund. Tolle Veranstaltung!

Mit dem Taxi geht es zur Party der unabhängigen Verlage in einem alten Postamt, beeindruckende Kulissen können die hier einfach gut in Leipzig. Auf dem Soul & Funk-Dancefloor tobt das junge Leben, die Frauen sind schön, die Männer kucken interessant. Mein Tanzbein ging im Messetrubel verloren, bis drei Uhr sitzen wir in Sofaecken und besprechen lachend das Leben. Ich gehe als Erster, ich gehe alleine und ich glaube zu wissen wie ich zu Fuß zum Hotel komme. Nach zwanzig Minuten bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Und irgendwann bin ich dann wirklich lost in Leipzig. Die Überraschung ist riesengroß als ich gegen halb Vier um eine Ecke biege und wieder vor dem Eingang zur Party stehe. Ich winke mir wie beiläufig ein Taxi herbei.

Samstag

Die bunte Manga Hölle der Cosplayer liegt in Halle 2. Dorthin habe ich mich verirrt, weil ich einem Freund Recherche im Kinderbuchsektor versprach. Jetzt bin ich umzingelt von grell geschminkten Feen, Elfen, Bären, Kosmonauten und anderen textilen Dramen, minderjährige Mädchen in knappen Tangas, ganz viele dicke Kinder mit neonfarbenen Perücken. Das pubertäre Grauen verstopft die Messe nachhaltig in allen Hallen, aber wer will der Jugend böse sein für die Irrungen und Wirrungen des Erwachsens. Als ich Freund Claudio Del Principe vom Anonyme Köche Blog treffe, versichern wir einander, dass wir in diesem Alter zumindest cool aussahen, Claudio in jungen Jahren der New Romantic-Bewegung zugehörig, ich gab seinerzeit den spätgeborenen Freizeit-Punk.

Zwei die wissen, was man zu einer Buchmesse anzieht: Claudio Del Principe und Martin Suter

Apropos bunte Perücken und Punkrock: Nina Hagen war auch da und sprach gewohnt Wirres, nach Ufos und Indien hat sie jetzt die evangelische Kirche entdeckt, ein echtes Amenszeugnis. Außerdem glaube ich unter den 156 000 Besuchern (9000 mehr als im Vorjahr, weiß die ZEIT) auch Jan Weiler erkannt zu haben. Ganz alleine trank er hochkonzentriert ein Bier an einem Bewirtungsstand und als er mich sah, drehte er sich schnell weg. Ich weiß nicht warum, ich schätze Jan Weiler und mochte auch seinen letzten Roman Drachensaat sehr. Ich glaube ja, er wollte einfach nur der Diskussion um die langatmig-unwitzig-öde Verfilmung seines Buches „Maria ihm schmeckts nicht“ entgehen. Da können Sie doch nix dafür Herr Weiler! Prost. (Update: Jan Weiler wars nicht.)

Auch Martin Walser schlich an diesem Tag durch die Hallen, einer meiner Verleger hatte dazu eine schöne Idee und die Vorstellung erheiterte uns mehrere Stunden: auf der Buchmesse Martin Walser begegnen, ihm freudestrahlend entgegen laufen, ihn beherzt kumpelhaft-schwungvoll in den Schwitzkasten nehmen, mit der noch freien Hand sein weißes Haar zerwuscheln und dabei immerzu rufen: „Thorste! Alter! Du hier! Thorsten!“ Ich muss schon wieder lachen, wo ich das niederschreibe, tschuldigung, eventuell müsste man dabei gewesen sein.

Abends essen wir im Kowalski , toller Laden, freundlicher Service, appetitliche Karte und sehr gute Küche zum charmanten Preis! Eine selige Müdigkeit überfällt uns am Tisch, weil wir aber nicht zum Spaß hier sind, gehen wir noch auf die Party des Deutschen Literaturinstituts. Das ich das noch erleben darf. Ehrfürchtig betrete ich die heiligen Hallen der Kaderschmiede für literarisches Schreiben, die seit Jahren für einen ganz eigenen, handwerklich perfekten Sound im Schreiben ihrer Schüler sorgt, einem Sound der sich oft erst mit dem zweiten Buch verliert. Die museale Sicht auf das eigene Schaffen zeigt sich im gläsernen Schaukaste gleich im Eingangsbereich des Institutes, hier sind alle Buchveröffentlichungen ehemaliger Schüler hinter Glas ausgestellt, dort wo sich an amerikanischen Schulen die Pokale der Footballmannschaft und des Matheclubs befinden.
Im Lesesaal wurden alle Stühle beiseite geschoben, eine Vierfarblichtorgel zaubert Diskostimmung und man zieht zu geschmackvoller 80er Jahre Mucke seine Kreise übers Parkett. Ich sitz und kucke nur, sonst selbst ein großer Ausdruckstänzer, staune ich über die Dance-Skills der angehenden Literaten. Das war mal die angesagteste Party der Buchmesse, raunen mir die alten Buchmessehasen mit hochgezogenen Augenbrauen zu.

Gegen Mitternacht verlassen wir die Sause, man soll ja aufhören wenn es am schönsten ist. Einer meiner wunderbaren Verleger begleitet mich noch bis zum Hotel, nicht das der Herr Autor auf den letzten Metern Leipzig noch(mal) verschütt geht. Nachts träume ich von Nina Hagen. Wir tanzen durchs Treppenhaus des Deutschen Literaturinstitutes, sie nennt mich ausdauernd Thorsten, Jan Weiler steht hinterm Plattenspieler und ruft, er lege jetzt mal „was fetziges“ für uns auf, spielt Sabotage von den Beastie Boys und prostet mit zu. Leider ist kaum was zu hören von den Beastie Boys, weil plötzlich Joachim Bublath die Haustür aufreißt, diabolisch grinsend „Knoff Hoff!“ schreit und eine zwölfköpfige Brassband reinwinkt. Tausende Mangakinder drängen nach.

Schweißgebadet erwache ich schon früh. Wenn ich dieses grässlich rote Auto wieder finde, fahre ich nach Berlin.

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