Ungeschönt: Mein Naturwein-Experiment

Ist das ein Fehlton oder soll das so? - Protokoll einer Annäherung mit Folgen

Der erste Lockdown war auch in unserem Haushalt geprägt von “erhöhtem Trinkgenuss“. Dem folgte die Idee: Wenn schon Weine per Online-Bestellung für uns durch die Gegend gekarrt wird, dann doch lieber Weine, die wir noch nicht kennen! Eher sporadisch probiert hatte ich bis dahin sogenannte Naturweine aus biologisch und/oder biodynamischen Anbau, die – naturbelassen produziert – die klassische Weinwelt mit frischen Ideen und radikalen Ansätzen beleben.

Die anhaltenden Diskussionen um verbindliche Kennzeichnungen, Kategorisierungen und den Begriff Naturwein selbst lassen dem jungen Trend viel Freiheit. Derweil pflegen insbesondere konservative Lager ihre Vorurteile, die in der spöttischen Frage mündet: Ist das ein Fehlton oder soll das so? Das war mir zu einfach.

Wirre Haare, wilder Wein! Foto: Michael Bernhardi für Foodie Magazin

Mir gefiel die Kompromisslosigkeit der neuen NaturwinzerInnen, die jede Methode moderner Weinherstellung hinterfragten, während sie sich den Wurzeln und der Kultur des naturbelassenen Weinbaus zuwendeten. Ich bestellte mir einen gemischten Karton, und dann noch einen … Weine aus Deutschland und Österreich zuerst, schnell kamen Spanien und Frankreich dazu, später Tschechien, Portugal. Ich hatte ein Riesenfass aufgemacht!

Eines vorweg: Ja, diese Weine zu trinken, kann einsam machen. Kaum erlaubten erste Lockerungen wieder Besuch von Gästen, versuchte ich meine aufkeimende Begeisterung für die Naturel-Weinbewegung im Freundeskreis zu teilen. Die Reaktionen gemischt, eher verhalten. Ob ich auch noch richtigen Wein dahätte, wurde ich öfter gefragt.

Einmal öffnete ich für meine – durchaus weltoffene – Mutter einen Weißwein vom Gut Oggau, erzählte von Böden und Bienen, von den Pioniertaten der naturnahen WinzerInnen vom Neusiedlersee, deren Weine es mittlerweile zu internationalem Renommee gebracht haben. Ich schwärmte von Farbe und Charakter, beschrieb blumig das Glück, diesen Wein zu genießen – bis mich meine Mutter mit dem schönen Satz unterbrach: „Schade, dass man erst so viel erklären muss, damit mir der Wein schmeckt.“

Wer sich auf das Abenteuer naturnaher Weine einlässt, erlebt neue Aromen jenseits konventioneller (und vor allem angelernter) Geschmackswelten.

Alles ist ein bisschen rauer, wilder, direkter und ja: vor allem lebendiger. Eigen und veränderlich. Dafür überlassen die Winzer und Kellermeisterinnen diese low intervention-Weine überwiegend sich selbst. Terroir pur: Boden, Trauben, Temperatur, Zeit. Neben einem Minimum an Einflussnahme (und den damit verbundenen wirtschaftlichen Risiken), bedeutet das den Verzicht auf z.B. Aromahefen, Klärhilfen oder Aufzuckerung. Über 50 nicht ausweispflichtige Zusatzstoffe sind theoretisch für die Herstellung eines EU-Bioweins zugelassen. Sie steuern u.a. Geschmackskonstanz, Viskosität und Haltbarkeit. Stoffe, die auch ursächlich sind für Allergien, oder das gelegentlich aufziehende Kopfweh engagierter Genusstrinker.

Selbst die von mir im selbstlosen Langzeitversuch ermittelte, besondere Bekömmlichkeit der Weine vermochte die FreundInnen nicht zu überzeugen. Einzig mit ein paar Flaschen Pet Nat (pétillant nature = „natürlich perlend“), der naturnahen Variante von Schaumwein aus Flaschengärung, erzielte ich während der Sommermonate Gelegenheitserfolge.

Im Austausch mit Gleichgesinnten festigte sich meine Erfahrung. So schilderte mir der Besitzer eines Naturweinhandels, er habe auch kein Glück im Freundeskreis. Lachend fügte er hinzu, sein Laden liefe trotzdem: Eine überwiegend junge, neugierige Klientel begeistere sich anhaltend für Naturweine. Manche Flaschen und Jahrgänge sind selbst für den Händler nur noch in limitierter Auflage zu haben und schnell vergriffen. Die wachsende Nachfrage kann von den meist kleinen Winzereien kaum gestillt werden. Erfolg in a bubble.

Zwei Jahre und etliche Verkostungen später bin ich Fan der neuen Weinbewegung. Auf dem Weg dahin ist noch etwas passiert: Ich vertrage Sulfite im Wein immer weniger gut und mein Weingeschmack hat sich noch ein mal sensibilisiert. Die glattgebügelten Weine von der Stange, mit ihren übertrieben pointierten Schlüsselaromen, sind mir früher nicht weiter aufgefallen. Heute langweilen sie mich schnell. Naturweine bereichern die Weinwelt, ähnlich wie Craftbeer nachhaltig den Biermarkt aufwirbelte. Das Abenteuer geht gerade erst los.

Naturwein kaufen und genießen

Hamburg

Vin Vin Naturel

Der kleine Laden im Schanzenviertel besticht durch eine große internationale Auswahl an Naturweinen, die Beratung ist so freundlich wie kenntnisreich, wechselnd sind auch Probierflaschen offen. Onlineversand:

vinvin-naturel.com

Berlin

8gb.

Ramona Winter & Philipp Heinzer vom 8gb. aus Berlin fahren ein Riesenprogramm an Naturweinen aus Österreich und Deutschland und schnüren auch spannende Weinpakete für Euch. Zweimal in Berlin, Prenzlauer Berg und Kreuzberg – und immer im Onlineversand:

8greenbottles.de

Viniculture

Echt eine Macht an der Spree: Viniculture! Das Naturwein-Angebot ist groß, die Beratung vor Ort top – und einen Onlineshop gibts auch!

viniculture.de

Stuttgart

OFF GRID

Seit 2018 gibt es OFF GRID den Naturweinladen mit einer großen internationalen Auswahl und Direktimporten. Der direkte Kontakt zwischen Winzern und Kunden sind Daniel Fels, Philipp von Lintel und Christoph Geyler wichtig – einen Onlineshop gibt’s trotzdem:

offgrid.wine

Köln

la vincaillerie

Weinhändlerin Surk-ki Schrade organisiert seit 20015 und wenn nicht grade Pandemie ist den Weinsalon Natürel in Köln. Ihr Sortiment im eigenen Weinladen ist entsprechend exzellent kuratiert Sie ist Autorin des ersten Buches über Nature Weine in Deutschland: ihr empfehlenwertes Buch Natürlich Wein  ist im Christian Verlag erschienen (Bild siehe unten). Die aktuellen Öffnungszeiten ihre la vincaillerie  in Köln finden sich online, ebenso der Shop:

la-vincaillerie.de

Weiter lesen, mehr erfahren

Isabelle Legeron, MW, Natur Wein, at Verlag 2020

Isabelle Legeron ist Master of Wine, die höchste Auszeichnung im Fach der Sommeliers. Sie ist auch ein der ersten Aktivistinnen für naturbelassene Weine und Gründerin von RAW, der internationalen Naturwein-Weinmesse die jährlich in Berlin, London, New York, Los Angeles und Montreal stattfindet. Ihr reich bebildertes und wissenstiefes Buch erklärt die Weine und die Bewegung in allen Details, porträtiert die wichtigsten MacherInnen und beispielhaft Weine aus aller Welt.

Das Buch: im at Verlag

Offenlegung: dieser Artikel erschien in Teilen zuerst im FOODIE Magazin 03/22.

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